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Leseprobe 1 DOI: 10.14623/wua.2020.4.150-155
Dieter Funke
Utopien und Dystopien als Orte seelischen Rückzugs
Mit dem Verlust von gewohnten Alltagsabläufen während der Corona-Krise wurde vielen Menschen plötzlich bewusst, welche stabilisierenden Funktionen die fraglosen und ritualisierten Handlungen des Alltags haben: Sie erzeugen das Gefühl der Beständigkeit und Verlässlichkeit der Welt, sie geben die Gewissheit des Immer-so-weiter und schützen dadurch vor aufkommenden Ängsten vor dem Unverfügbaren und Ungewissen. Erst in der Unterbrechung der alltäglichen Handlungsabläufe wurde vielen der Wert dieser Rituale ebenso bewusst wie die Unverfügbarkeit von Sicherheit, Gesundheit und Zukunft.

Utopien: Reaktionen auf einen Verlust

Diese Erfahrung von psychischer, sozialer und wirtschaftlicher Verunsicherung führt in Zentrum dessen, was Utopien im Kern ausmacht: Nämlich Hoffnung zu geben, dass es wieder so werden wird, wie es war. Diese Sehnsucht führt aber auch dazu, den verloren Zustand in rosarotem Licht erscheinen zu lassen. Der Grund liegt wohl in der menschlichen Neigung, das, was abwesend ist, zu idealisieren, was so viel bedeutet wie das Ausschalten und Verdrängen der Realität in ihren konflikthaften und versagenden Seiten. Dies drückt sich schon im Begriff „Utopie“ (ou-topos) aus, der bedeutet „nicht Ort“ bzw. „kein Ort“. Die Utopie besteht also in einer von der Realität losgelösten wunschbestimmten „ortlosen“ Phantasie. Um die Dynamik dieser utopischen Phantasien und deren Bedeutung für das seelische und spirituell-religiöse Leben zu verstehen, hilft ein Blick auf die wohl bekannteste utopische Vorstellung, nämlich die des verlorenen Paradieses. Dieser im zweiten Schöpfungsbericht der Genesis beschriebene ideale Zustand des Gartens Eden lässt sich als ein „nostalgischer Trennungsmythos“ verstehen. Menschheitsgeschichtlich geschah dies als Antwort auf die Erfahrung, aus dem Ring der Zeit und dem Kreis der Natur herausgefallen zu sein durch die sog. neolithische Revolution, die Sesshaftwerdung der Menschheit im Zeitraum von 5.000 bis 1.800 vorchristlicher Zeit.

Utopien als zeit- und ortlose Zustände

An Zeit und Raum gebunden zu sein ist die Grundvoraussetzung, sich als individuelles Wesen – psychologisch als „Ich“ – zu verstehen. Erst durch diese raumzeitliche Begrenzung wird die frühkindliche Phantasie, unsterblich und allmächtig zu sein, unterbrochen. Diese Phantasie von Ort- und Zeitlosigkeit wurzelt im vorgeburtlichen Zustand als Fötus, wie er sich in Bildern und Vorstellungen vom ursprünglichen Paradies am Beginn der Menschwerdung ausdrückt. Dieser vorgeburtliche Zustand bildet eine in sich geschlossene, zeitlose Welt, in der die Quellen der Sehnsucht nach Wohlbehagen, Sicherheit und Harmonie zu suchen sind. Dieser Zustand wurzelt in der lückenlosen Versorgung des Fötus durch den mütterlichen Organismus und damit in der Abwesenheit von Mangel und Spannung. Diese pränatale Versorgungseinheit mit der Mutter bildet das Fundament, aus dem das Bedürfnis nach Unbegrenztheit und Allmacht hervorgeht. Jedoch weist bereits in der frühen Phase diese Sehnsucht zwei Seiten auf: Der positive Narzissmus der Ganzheit und der Vollkommenheit, in dem spätere Fähigkeiten wie Zuversicht und Hoffnung wurzeln, steht dem destruktiven Narzissmus gegenüber. Destruktiv deshalb, weil in ihm grandiose Allmachtsphantasien und die Wut gegen die störende Realität wurzeln. Mit der Geburt ist der Säugling gezwungen, aus seiner von Körperspannungen freien Welt des Mutterleibes herauszutreten und damit genötigt, die Gegebenheit von Versagung anzuerkennen. Zunächst sorgt die Mutter durch ihre Präsenz dafür, dass der geburtliche Absturz des Säuglings nicht in die Katastrophe führt. Eine liebevolle und einfühlsame Beziehung der Mutter zu ihrem Kind erlaubt es diesem, den jähen Verlust des vorgeburtlichen Paradieses einigermaßen unbeschadet zu überstehen. Die Mutter wird vom Säugling (in der Phantasie) mit solchen Qualitäten ausgestattet, die dem Leben in ihr vor der Geburt entsprechen, so dass man von einem Idealbild der Mutter als Kern der paradiesischen Utopie sprechen kann.

Der Verlust ursprünglicher Vollkommenheit und Ganzheit stellt einerseits die Geburt des Individuums dar, ist aber andererseits mit der Aufgabe der Bewältigung des Verlustes paradiesischer Vollkommenheit verbunden. Die Fähigkeit, diesen Verlust zu ertragen, setzt ein einigermaßen funktionsfähiges Ich voraus. Wer allzu starken Mangelerfahrungen an Resonanz, Bindung und Anerkennung oder traumatischen Erfahrungen des Verlustes und der Angstüberflutung ausgeliefert war, dem fehlen die gesunden Mechanismen der Bewältigung dieser Mangelerfahrungen und der damit verbundenen Ängste. Zur Abwehr dieser Ängste und des damit verbunden Leidens greift der Einzelne auf utopische Phantasien zurück, die als Ideale ein Gegenbild zur schmerzhaften und leidvollen Realität bilden. Als wichtigstes Merkmal solcher utopischen Zustände hat der Psychoanalytiker Heinz Weiss die eben erwähnte Zeitlosigkeit benannt. Die Phantasie der Abwesenheit von Zeit dient der Abwehr der Angst vor Endlichkeit, Begrenztheit und der Sterblichkeit.

Ein Beispiel aus der therapeutischen Praxis: Ein Analysand leidet an seiner Angst, sich auf eine Partnerschaft einzulassen, weil damit für ihn der Ausschluss von anderen Beziehungen verbunden ist, eine Vorstellung von Begrenzung, die für ihn unerträglich ist. Die Bearbeitung dieser Bindungsangst lässt ihn die dahinterliegende narzisstische Kränkung der Begrenztheitserfahrung des eigenen Lebens erleben. Ihm ist es lieber, die nie gestillte Sehnsucht nach einer Liebesbeziehung zu ertragen als die Kränkung zu erleiden, andere Möglichkeiten von Beziehung auszuschließen. Diese Kränkung der Begrenztheit zu ertragen ist ihm unmöglich, weil er in seiner Kindheit durch eine selbstbezogene, resonanzunfähige Mutter, einen emotional abwesenden Vater und traumatischen Heimatverlust durch Migration zu wenig Sicherheit und Bindung erfahren hat, die es ihm ermöglicht hätten, Grenzen ertragen zu lernen. Bei dem hier erwähnten Patienten dient die Phantasie der Unbegrenztheit des eigenen Lebens und damit die Abwehr der Todesgewissheit dem Schutz vor der katastrophalen Wiederbelebung des Traumas von Verlust und Ohnmacht. Die Verleugnung der Zeit, die ja immer die Integration der Todes als Begrenzung der eigenen Lebenszeit voraussetzt, hat bei vielen Menschen wie auch bei diesem Patienten Schutzfunktion: Er flüchtet sich stattdessen in die Phantasie, in Zukunft an einem idealen Ort im Süden das Leben mit allen Vorzügen genießen zu können, einschließlich einer Partnerin. Die Vorstellung eines solchen utopischen Ortes lässt in ihm die Hoffnung wachsen, dass sich die Bearbeitung seiner derzeitigen Schwierigkeiten lohnt. Neben der Abwehrfunktion im Hinblick auf Begrenzung begründet diese Utopie in ihm auch Hoffnung und Zuversicht. Sie hilft ihm, sich auf das begrenzte Leben im Heute einzulassen und die Enttäuschung darüber in der Schwebe zu halten mit der Phantasie eines besseren Lebens.

Im religiös-spirituellen Bereich drückt sich diese produktive Utopie im Glauben an einen liebenden Gott aus, der alles zum Besseren führt oder im Bild einer neuen Welt, das die Mühen des Lebens in Begrenztheit, Versagung und Leiden erträglich macht. [...]


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