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Leseprobe 2 DOI: 10.14623/wua.2017.1.11-16
József A. Tillmann
Monumente, Räume, Zeiten
„Understanding“ Ungarn
In der Nähe des Heldenplatzes in Budapest steht ein Zeitrad, das – laut Wikipedia – „die größte Sanduhr der Welt“ ist. „Das Zeitrad ist ein Rad mit einem Durchmesser von 8 m, bei einer Breite von 2,5 m.“ Die Sanduhr läuft jährlich ab und sollte sich – laut ihres Erfinders János Herner – ursprünglich sogar bewegen. Denn Herners Ziel war es, „die Zeit auch plastisch darzustellen, deshalb sollte die 60 Tonnen schwere Sanduhr nicht einfach nur aufgestellt werden, sondern auch langsam rollen – daher auch ihre Form“. Um die Jahrtausendwende wollte man vielerorts diesem Schrumpfen des Zeitempfindens und der sich somit als immer kürzer werdenden gefühlten Jetztzeit etwas entsprechend Konträres entgegensetzen. The Clock of the Long Now – entwickelt von der Long Now Foundation – ist u. a. solch ein Versuch, diese Veränderungen in einem entsprechenden Format darzustellen. The Clock of the Long Now, als monumental geplantes Uhrwerk, ist bisher nur in Form eines Prototyps in zwei Meter Größe realisiert worden. Obwohl es beim Budapester Zeitrad ausgesprochen um die Zeit geht, stehen jedoch räumliche Aspekte im Vordergrund, wie dies eine Umfrage – die vor der Errichtung des Rades, unter jeweils 100 Ausländern sowie unter jeweils 100 Ungarn (Architekten, Fachleute aus der Tourismusbranche, etc.) durchgeführt wurde – offensichtlich zeigt. Es ging dabei um die Frage, ob der Durchmesser des Zeitrades von 8 Metern zu viel oder zu wenig wäre. Das Ergebnis, so Herner in einem Interview, war außerordentlich: „Von 100 Ausländern fragten 97, warum das Rad so klein und von 100 Ungarn 92, warum es so groß ist!“

Zeit und Raum


Ein Monument, das die Tragweite der vergehenden Zeit entsprechend darstellen will, muss monumental sein. Mit einem Durchmesser von 8 Metern ist ein Rad der Zeit belanglos. Konkret heißt das, dass man an das Budapester Zeitrad ganz nah herangehen muss, um es überhaupt in seiner mit Bedeutungen überladenen Umgebung wahrnehmen zu können. Mit anderen Worten, das Monument müsste entsprechend dem Vorhaben in einer anderen Größenordnung angesiedelt sein, um den erwünschten Effekt zu erreichen. Im Hinblick auf die Proportionen seiner Umgebung bedeutet dies aber, dass ein Durchmesser von 20–30 Metern nötig wäre, damit das Rad erst gleich hoch mit der Giebelhöhe der umliegenden Bauten sei und so nicht in seinem ihn völlig überragenden Hintergrund verschwinden würde.

Diese merkwürdige Kleinsicht auf die Welt offenbart sich aber auch in anderen Bereichen. Der ungarische Schriftsteller Győző Határ, der nach 1956 in London lebte, brachte diese eigentümlich reduzierte Perspektive treffend auf den Punkt, indem er vor einigen Jahren in einem Rundfunk-Interview sagte: „Die ungarische Elite sieht durch ihre Provinzialität die Welt kaum.“ Dies mag erstaunlich klingen, aber es spricht mehr dafür als dagegen. Sucht man nach Ursachen für diese so merkwürdige Sicht, dann findet man in der Entwicklung und Ausformung moderner Raumvorstellungen – bereits um 1500 mit der Auflösung des christlich-lateinischen Universalismus und mit der Herausbildung nationalsprachlicher Schriftkulturen beginnend – entscheidende Unterschiede in den verschiedenen europäischen Regionen. Dieses Entstehen solch national-kultureller Räume vollzog sich gleichzeitig mit der europäischen Expansion und mit der darauffolgenden Raumrevolution (Carl Schmitt). So waren es denn nicht nur einzelne Reisende, sondern von seefahrenden Nationen beinahe alle Volksschichten, die auf direkte oder vermittelte Weise mit fernen Kontinenten in Berührung gekommen sind.

Es ertönt ein neuer Schlachtruf, wie Gilles Deleuze und Felix Guattari in Tausend Plateaus schreiben: „Die Erde, das Territorium und die Erde! Mit der Romantik gibt der Künstler seine Ambitionen auf eine rechtmäßig verbürgte Universalität (…) auf: er territorialisiert sich …“

Identitätskonstruktionen Genau dies geschah bei den romantischen Dichtern mitteleuropäischer Nationen, die nicht nur Verfasser von Dichtungen, sondern gleichzeitig auch Gestalter nationaler Identitätskonstruktionen waren. Für diese Konstrukte verwendeten sie legendäre Erzählungen, fabelhafte Genealogien und so manch andere Tatsachen. Es entstand im religiösen Vakuum dieses Zeitalters des Nihilismus eine neue Glaubenswelt mit Nationalgöttern, Heiligenkulten und Sakralräumen. Die Poeten-Priester verkündeten ihre Phantasmen und schrieben die Texte einer neuen Nationalliturgie. Der Widerhall ihrer Glaubens- und Weltvorstellungen war und ist bis heute bei jeder Volksversammlung, Schulfeier und bei allen Staatsandachten zu hören. In Ungarn flößte der Dichter Mihály Vörösmarty, der zum engsten Kreis ungarischer Identitätskonstrukteure gehörte, so ganz nebenbei Generationen durch sein „Nationalgebet“ Szózat (Mahnruf) eine beachtlich bodenständige Welt- und Raumfurcht ein. Der Refrain dieses „Gebetes“, das jedem ungarischen Grundschüler eingeprägt wird, verkündet nämlich die Mahnung: „Die weite Welt gibt anderswo / nicht Raum noch Heimat dir.“ [...]


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