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Leseprobe 1 |
DOI: 10.14623/wua.2024.3.102-108 |
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Josef Bormann |
Leistungsgerechtigkeit |
Ein vergessenes Element der (sozialen) Gerechtigkeit? |
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Der Begriff der ‚Gerechtigkeit‘ gehört zu den wichtigsten und komplexesten, zugleich aber auch zu den am stärksten von Verflachung und ideologischer Verzerrung bedrohten Kategorien unserer Moralsprache. Für die meisten Zeitgenossen bedeutet Gerechtigkeit – vor allem dann, wenn sie mit dem schillernden Attribut ‚sozial‘ verknüpft wird – einfach so viel wie ‚Verteilungsgerechtigkeit‘. Eine solche Sichtweise beruht zumeist auf einem Verständnis des Staates als einer Sozialagentur, deren wichtigste Aufgabe darin besteht, durch möglichst zielgenaue Transferleistungen die verschiedenen Notlagen der Bürger zu lindern. Obwohl demokratische Staaten zweifellos unter anderem auch eine Sozialfunktion zu erfüllen haben, ist diese Sichtweise allein schon deswegen zu einfach, weil sie das spannungsreiche Verhältnis von Kontribution und Distribution einseitig zum Pol der Umverteilung auflöst und damit genau jene Dimension der Leistungsgerechtigkeit ausblendet, die eine notwendige Voraussetzung für sozialstaatliche Maßnahmen darstellt. Um zu verstehen, wie es dazu kommen konnte, dass Elemente einer leistungsgerechten Ordnung des Gemeinwesens in den letzten Jahrzehnten immer stärker marginalisiert wurden, ist zunächst ein kurzer Blick in die philosophische Tradition zu werfen. Im Anschluss daran soll an drei Beispielen gezeigt werden, dass eine Rückbesinnung auf den Kerngehalt der Leistungsgerechtigkeit unverzichtbar ist, um strukturelle Fehlsteuerungen unserer sozialen Sicherungssysteme zu korrigieren.
Historische Vergewisserung
Auch wenn es im Rahmen dieses kurzen Beitrages unmöglich ist, die komplizierte Entwicklung des abendländischen Gerechtigkeitsverständnisses auch nur in Grundzügen zu rekonstruieren, seien doch zwei für unsere Thematik besonders wichtige historische Bezugspunkte erwähnt: zum einen der wirkungsgeschichtlich einflussreiche Versuch des Aristoteles, die Binnenstruktur des Gerechtigkeitsbegriffs durch die Unterscheidung verschiedener gerechtigkeitsbezogener Einzelphänomene genauer zu erhellen, und zum anderen die Fairnesskonzeption von J. Rawls, deren anti-meritokratische Stoßrichtung maßgeblich dazu beigetragen hat, Vorstellungen der Leistungsgerechtigkeit aus der neueren politischen Ethik zu eliminieren.
Aristoteles
Grundlegend für die von Aristoteles im V. Buch seiner Nikomachischen Ethik entfaltete Gerechtigkeitstheorie sind zwei begriffliche Unterscheidungen, von denen die erste die Differenz zwischen dem ‚einfachhin Gerechten‘ (ἁπλῶς δίκαιον) und dem ‚politisch Gerechten‘ (πολιτικόν δίκαιον) betrifft, wobei sich letzteres wiederum in das ‚natürliche‘ (φυσικόν) und das ‚gesetzliche‘ (νομικόν) Gerechte untergliedert. Beide Erscheinungsformen des δίκαιον verweisen auf die mangelnde Autarkie und die Gemeinschaftsbezogenheit des Einzelnen. Das ‚einfachhin Gerechte‘ hat seinen Sitz im Leben dort, wo Menschen sich zur Befriedigung grundlegender Bedürfnisse entweder zu rein privaten Tauschgeschäften zusammentun oder elementare Lebensgemeinschaften (wie die zwischen Mann und Frau) bilden. Während es sich bei dem ‚einfachhin Gerechten‘ um eine bloße Vorform der Gerechtigkeit handelt, bezieht sich der Begriff des ‚politisch Gerechten‘ auf die Vollgestalt des δίκαιον, die überall dort unverzichtbar ist, wo freie und gleiche Bürger auf Dauer in einem Gemeinwesen zusammenleben. Aristoteles zufolge ist der Mensch „von Natur aus ein politisches Lebewesen“, weil er zur Entfaltung seiner Persönlichkeit und zur Ermöglichung wahren Glücks auf einen bestimmten politischen Rahmen angewiesen ist. Um dauerhaft stabil zu sein, bedarf das Gemeinwesen zwingend einer moralischen Grundlage, die Aristoteles im ‚natürlich Gerechten‘ auf den Begriff bringt. Im Gegensatz zum bloß ‚gesetzlich Gerechten‘, das einen moralisch neutralen Gegenstandsbereich betrifft und seine Verbindlichkeit allein aus dem Faktum seiner positiven Festsetzung bezieht, ist unter dem φυσικόν δίκαιον ein der menschlichen Willkür entzogenes, universal geltendes ungeschriebenes Gesetz zu verstehen, das nicht nur die Ausführung bestimmter unmoralischer Handlungen kategorisch verbietet, sondern sich auch für eine zweite aristotelische Begriffsunterscheidung als höchst folgenreich erweist, die die Differenz zwischen der ‚allgemeinen‘ und der ‚partikularen‘ Gerechtigkeit betrifft. Während erstere i.S. der iustita legalis die notwendige Befolgung der verschiedenen Gesetzesvorschriften verlangt, umfasst letztere zum einen die „Zuerteilung von Ehre oder Geld oder anderen Gütern, die unter die Staatsangehörigen zur Verteilung gelangen können“, und zum anderen die Regelung des Verkehrs der Einzelnen untereinander, die mit der Tauschgerechtigkeit (iustitia commutativa) und der Strafgerechtigkeit (iustitia correctiva) wiederum verschiedene Teilbereiche umfasst. Von besonderem Interesse für den Gedanken der Leistungsgerechtigkeit ist die aristotelische Bestimmung der iustitia distributiva als einer Verhältnisgleichheit i.S. einer geometrischen Proportion, bei der „die Personen nach demselben Verhältnis unterschieden [sind] wie die Sachen“. Die Bedeutung dieser Aussage liegt zunächst einmal darin, dass die Eigenart der zu verteilenden Güter bei der Verteilung ebenso zu berücksichtigen ist wie die Beziehung der Personen zu diesen Gütern, was deren unterschiedslose Gleichverteilung in der Regel ausschließt. Da Aristoteles zufolge „aller Zank und Streit“ daherkommen, „daß entweder Gleiche nicht Gleiches oder nicht Gleiche Gleiches bekommen und genießen“, bedarf es eines validen Verteilungskriteriums, das Aristoteles zufolge in der „Würdigkeit“ (ἀξία) der Betroffenen besteht. [...]
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