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Leseprobe 3 DOI: 10.14623/wua.2023.4.162-168
Benedikt Schmidt
Offenbarung und Ethik
Wege, wie Ethik religiös und Religion ethisch werden kann
Die Frage nach dem Verhältnis von Offenbarung und Ethik ist in ihrer Tragweite für die Identitäts- und Relevanzbestimmung religiös konnotierter Ethiken wie etwa der christlich-katholischen kaum zu überschätzen. Sie ist nicht nur für das Selbstverständnis der Religionsgemeinschaften wegweisend, von ihrer Bestimmung hängt auch ab, ob und wie sich religiös konnotierte Ethiken in einer postsäkular- pluralen Gesellschaft zu verorten und einzubringen vermögen. Eine Verbindung der wissenschaftlichen Reflexionsbegriffe „Offenbarung“ und „Ethik“ spiegelt die gemeinhin geteilte Annahme wider, dass Religionen hinsichtlich des guten Handelns eine Orientierungskompetenz beanspruchen. Dabei ist allerdings keineswegs eindeutig, wie die Begriffe zu definieren sind. Im Folgenden wird „Ethik“ mit Ludger Honnefelder wie folgt verwendet:

„Unter Ethik versteht man die methodische Reflexion der Vernunft auf das menschliche Handeln, sofern es unter der Differenz von gut und böse bzw. von geboten, verboten oder erlaubt steht. […] Diesen Fragen entsprechend kann man verschiedene Formen der Ethik unterscheiden, je nachdem ob das Handeln an Handlungsdispositionen gemessen wird, die den guten Menschen bzw. das gute Leben auszeichnen, oder an Prinzipien, Regeln, Normen oder Gütern, mit deren Hilfe entweder die Handlungen selbst, die ihnen zugrunde liegenden Maximen oder die von ihnen verursachten Folgen geprüft werden.“

Ein derartiges Verständnis von Ethik legt weder sie selbst als Reflexion der Vernunft, noch das menschliche Handeln, auf das sie sich bezieht, von vornherein auf einen religiösen Kontext fest, sondern setzt vielmehr bei einer allgemein menschlichen Handlungs- und Reflexionskompetenz an. „Religion“ kann daneben mit Martin Fuchs und Jörg Rüpke als ein Orientierungssystem gefasst werden, das eine Weltdeutung mit Transzendenzbezug darstellt, darüber in Kommunikation tritt sowie Handlungsorientierung generiert und eine institutionelle Verdichtung erfahren kann. Im christlichen Kontext wird davon ausgegangen, dass der Kommunikationsvorgang von der Transzendenz des personalen Gottes selbst ermöglicht ist. Der theologische Begriff hierfür lautet „Offenbarung“. Die geglaubte Offenbarung Gottes gilt als Grundlage christlicher Religion schlechthin. In der Theologie als wissenschaftlicher Reflexion kommt daher der Theorie von der Offenbarung eine fundamentale Bedeutung zu: Sie ist „die theologische Rahmentheorie, innerhalb derer alle anderen […] Festlegungen und deren theologische Interpretationen ihren Ort haben.“ Das Verständnis von Offenbarung dient als Grundgrammatik der Theologie und ist von daher für jede theologische Ethik bedeutsam. Je nachdem wie Offenbarung verstanden wird, ergeben sich unterschiedliche Möglichkeiten, welche Formen von Orientierungskompetenz hinsichtlich des guten Handelns formuliert und beansprucht werden können. Auf den Punkt gebracht: Wie gutes Handeln im religiösen Kontext bestimmt wird, hängt maßgeblich davon ab, wie die Bezugnahme Gottes auf die Welt geglaubt und theologisch gefasst wird. Auf der Ebene der Theologie als Wissenschaft heißt das: Eine Ethik ist als theologische nicht ohne Bezug auf das zugrundeliegende Verständnis von Offenbarung explizierbar.

Das Verhältnis von Religion und Ethik


Nach diesen kurzen definitorischen Klärungen der leitenden Begriffe werden in aller Kürze vier unterschiedliche Logiken präsentiert, denen das Verhältnis von Ethik und Religion in grundsätzlicher Hinsicht folgen kann. In einem zweiten Schritt wird dann der explizite Bezug zum christlichen Verständnis von Offenbarung hergestellt.

Die Logik religiöser Inklusion
Entgegen der eingangs vorgestellten Definition von Ethik sieht eine religiös-inklusive Logik gutes Handeln nur in einem religiösen Kontext als möglich an. Als prominentes Beispiel sei auf die einflussreiche Wirkungsgeschichte des augustinischen Spätwerks verwiesen: Das Böse gilt hier als Tat menschlicher Freiheit, gute Werke werden als von Gott im und durch den Menschen vollbracht bestimmt. Dies erstreckt sich sowohl auf die Kenntnis des guten Handelns als auch auf die Motivation zu demselben. Jenseits des religiösen Horizonts weiß der Mensch nicht, was das Gute ist, und verfügt nicht über die Fähigkeit, es zu bestimmen und umzusetzen. Der Religion kommt die Aufgabe zu, in beiderlei Hinsicht Abhilfe zu schaffen. Ethik ist in dieser Logik nur als religiöse möglich. Das gute Handeln und seine Reflexion in der Ethik bilden eine Teilmenge des religiösen Orientierungssystems. Natürlich muss die religiös-inklusive Logik nicht in ihrer Reinform vertreten werden, sondern es können auch Abstufungen etwa dahingehend formuliert werden, dass eine basale Grundfähigkeit in der Erkenntnis und zur Umsetzung des Guten allen Menschen zugesprochen wird, die Höchstform aber dem religiösen Kontext vorbehalten bleibt.

Die Logik säkularer Inklusion
Umgekehrt verhält es sich, wenn Religion als Teilmenge von Ethik aufgefasst wird. Die praktische Vernunft des Menschen nimmt in dieser Logik die zentrale Stelle ein und generiert aus sich selbst heraus eine hinreichende Kenntnis vom und Motivation zum Guten. Tradierte religiöse Wissensbestände werden in Vernunftwahrheiten überführt und haben allenfalls pädagogischen Mehrwert. Dies ist etwa das Programm einer rationalistisch verstandenen Aufklärung. Eine genuin religiöse Orientierungskompetenz kann es hier nicht geben. Dies gilt an erster Stelle für die ethischen Dimensionen der Religion. Was mitunter bleibt, ist das aus der praktischen Vernunft generierte Postulat einer Transzendenz als jenseitiger Gerechtigkeitsinstanz. Auch in dieser Logik sind selbstredend Abstufungen möglich. So wird bisweilen zugestanden, dass der Religion im Bereich der Motivation zwar keine prinzipiell notwendige, aber durchaus gewünschte Funktion zukommen kann. Eine theologische Würdigung der säkular-inklusiven Logik ist möglich, indem schöpfungstheologisch das Vermögen der praktischen Vernunft als alleinige Basis einer religiösen Ethik begründet wird.

Die Logik der Indifferenz
Das Orientierungssystem der Religion und das gute Handeln sowie seine Reflexion stellen in dieser Logik zwei disjunkte Mengen dar, indem Religion nicht beansprucht, hinsichtlich des sittlich Guten Orientierung zu bieten. Dies meint keine Affirmation der säkular-inklusiven Logik, sondern eine grundsätzliche Indifferenz gegenüber dem Ethischen. Dies wird vorstellbar, je weniger zwischenmenschliche Praktiken und je stärker die persönliche Kontemplation in den Vordergrund treten. Von Seiten der Ethik hingegen kann es keine grundsätzliche Indifferenz geben, sondern es bleibt die notwendige Überprüfung der Religion auf ihre Kompatibilität mit dem sittlich Guten hin bestehen. Erst nach dessen Feststellung darf die entsprechende Religion als ethisch indifferent qualifiziert werden.

Die Logik einer Interferenz

Während die bisherigen Logiken je auf ihre Weise ein Extrem zum Ausdruck bringen, geht die Logik einer Interferenz davon aus, dass es einen Schnittbereich zwischen Religion und Ethik gibt, zugleich beide aber über eigene Restmengen verfügen. Dies bedeutet zweierlei:

1. Die Religion erhebt einen Orientierungsanspruch hinsichtlich des guten Handelns, ohne diesen allein mit dem Vermögen der praktischen Vernunft zu identifizieren.
2. Es gibt eine von Religion unabhängige Ethik als allgemein menschliche Reflexionskompetenz des guten Handelns, die auch beansprucht, von der Religion erhobene Orientierungsansprüche kritisch zu reflektieren.

Die Schnittmenge ist eine religiös konnotierte Ethik, die weder allein von der Religion noch von der Ethik bestimmt wird. Die Kenntnis des guten Handelns und die Motivation zu demselben gilt grundsätzlich als ein Vermögen der praktischen Vernunft, sofern es nun aber im besagten Schnittfeld angesiedelt ist, als ein auch genuin religiöser Gegenstand. Diese vierte Logik ist, wie im nächsten Abschnitt entfaltet wird, die komplexeste, da spannungsreichste und zugleich diejenige, die in der christlich-katholischen Theologie dominiert.

Das Verhältnis von Offenbarung und Ethik


Es dürfte wenig Überraschung hervorrufen, dass in der christlich-katholischen Glaubens- und Denkwelt die Logik der Indifferenz kaum eine Rolle spielt. Zu eindeutig wird im Christentum eine sittliche Orientierungskompetenz beansprucht. Auch die Logik säkularer Inklusion findet – bislang – wenig Beachtung. Näher zu beleuchten sind folglich die erste und vierte Logik.
Welcher der vier Logiken aus theologischen Gründen zu folgen ist, lässt sich plausibilisieren, wenn das zugrundeliegende Verständnis von Offenbarung rekonstruiert wird. Aber nicht nur bestimmt das Verständnis von Offenbarung, welche Logik dominiert, sondern auch, wie diese formuliert wird. Hier sind erhebliche Differenzen möglich. Im Folgenden werden die zwei einflussreichsten theologischen Modelle des Verständnisses von Offenbarung mit ihren ethischen Konsequenzen skizziert. Ihre Beschreibung von Max Seckler als instruktions- und kommunikationstheoretische Modelle hat mittlerweile den Status theologischen Basiswissens erlangt. Beide teilen eine grundlegend ablehnende Haltung gegenüber der Logik religiöser Inklusion, gestalten die der Interferenz aber vollkommen verschieden aus.

Die Logik einer Interferenz instruktionstheoretisch

Der Text, der wie kein zweiter für ein instruktionstheoretisches Denken steht, ist die Konstitution Dei filius des Ersten Vatikanischen Konzils (1869–1870). Offenbarung bedeutet hier die Mitteilung eines übernatürlichen Wissens durch Gott, zu dem die menschliche Vernunft aus sich selbst nicht gelangen kann. Das übernatürliche Offenbarungswissen bildet ein zweites Stockwerk über dem Wissen der natürlichen Ordnung. Das sittlich Gute gehört nun vornehmlich dem natürlichen Bereich an, ohne dass Dei filius in wünschenswerter Klarheit definierte, ob es auch ein übernatürliches sittliches Wissen gibt. Gegen die Logik religiöser Inklusion wird festgehalten, dass der Mensch mit Hilfe seiner Vernunft in der Lage ist, das Gute zu erkennen und umzusetzen. Die Weisungskompetenz des Lehramts auch für den natürlichen Bereich – denn auch dieser gilt als heilsrelevant – wird damit nicht infrage gestellt. Das Verhältnis von Offenbarung und Ethik gestaltet sich entsprechend derart, dass eine religiöse Instruktion über Verhaltensvorschriften erfolgt, die – so postuliert – der Mensch in der Regel auch selbst einsehen kann. Nichtsdestotrotz stellen die Gnadenmittel der Kirche einen unschätzbaren Wert dar, um das erkannte Richtige in einer durch die Sünde verdunkelten Existenz befolgen zu können. Dieses Modell ist für die Verhältnisbestimmung von Offenbarung und Ethik äußerst griffig und bestätigt dem Lehramt der Kirche seine absolute Autorität. Schwierigkeiten liegen in der Reduktion von Offenbarung auf eine Wissenskategorie sowie im dualistischen Ansatz von natürlichem und übernatürlichem Bereich. Ungeklärt bleibt, welche Kompetenz der praktischen Vernunft zukommt, wenn sie in der inhaltlichen Bestimmung des Guten mit dem Lehramt nicht übereinstimmt. Die Logik der Interferenz gemäß Dei filius hat hierauf keine Antwort, da eine Würdigung der Autonomie der Ethik im Gegenüber zur lehramtlichen Autorität unterbleibt. An diesem Punkt entzünden sich später die Debatten um Humae Vitae.

Die Logik einer Interferenz kommunikationstheoretisch

Der Text, der für ein kommunikationstheoretisches Denken im Raum der katholischen Kirche steht, ist die Konstitution Dei Verbum des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962–1965): „Gott hat in seiner Güte und Weisheit beschlossen, sich selbst zu offenbaren und das Geheimnis seines Willens kundzutun (vgl. Eph 1, 9) […]. In dieser Offenbarung redet der unsichtbare Gott […] aus überströmender Liebe die Menschen an wie Freunde […] und verkehrt mit ihnen, um sie in seine Gemeinschaft einzuladen und aufzunehmen (DV 1.2).“
Offenbarung bezeichnet die Selbstoffenbarung Gottes als Liebe, die ihren Höhepunkt in der Person Jesu Christi findet, der der Erweis der für den Menschen entschiedenen Liebe Gottes ist. Sie steht für ein personal-dialogisches Freiheitsgeschehen, das sich als Angebot Gottes für den Menschen als unbedingt relevant ausweisen lässt. Offenbarung ist damit an erster Stelle keine (sittliche) Weisung, sondern ein dialogisches Geschehen, das als Liebesbeziehung notwendig die Freiheit des Menschen voraussetzen muss. Anders als im instruktionstheoretischen Modell ist damit das Moment menschlicher Selbstbestimmung in das Offenbarungsverständnis inhärent eingeschrieben. Offenbarung berührt den Menschen auf ganzheitlich-existenzielle Weise und nicht nur intellektuell.

Das Verhältnis von Offenbarung und Ethik gestaltet sich nach diesem Modell deutlich komplexer. In aller Kürze sei angemerkt, dass hier einerseits der Offenbarungsglaube eine Würdigung der praktischen Vernunft und der Autonomie des Menschen impliziert, andererseits das Selbstoffenbarungsereignis der Person Jesu eine ethische Dimension umfasst, deren interpretierende Aneignung den Menschen in ihren jeweiligen Kontexten aufgegeben ist. Damit wird keine religiöse Sonderethik, sondern ein Modell sittlicher Orientierung für ein gelingendes Leben formuliert, das seinen Mittelpunkt in einer Logik der Überfülle hat, die die freie Selbstmitteilung Gottes als Liebe zum Vorbild nimmt. Seinen bekanntesten Ausdruck hat dies in ethischer Hinsicht in der Forderung zur Nächstenliebe gefunden, die nun nicht als ein geoffenbartes Gebot zu deuten ist, sondern als ein in der Person Jesu manifest werdendes Lebensmodell. Dass es sinnvoll ist, sich von ihr beanspruchen zu lassen, muss sich stets neu für das Gelingen der eigenen Identität und des menschlichen Zusammenlebens erweisen. Eine dies reflektierende religiös konturierte Ethik ist sowohl aussagekräftig für die inhaltliche Bestimmung des Guten als auch für die individuell-existenzielle Befähigung zum Tun des Guten. Sie muss sich dabei stets – und das unterscheidet sie fundamental von der Logik religiöser Inklusion – der Überprüfung durch die praktische Vernunft, die ihrerseits nicht religiös bestimmt ist, aussetzen. Zugleich kann sie weder für sich beanspruchen, die Ethik im Sinne Honnefelders als eigenständige Wissenschaft obsolet werden zu lassen, noch dass das von ihr vorgeschlagene Lebensmodell ein exklusives Handeln begründete. Aus der erstpersönlichen Perspektive der im Glauben Handelnden ist dabei eine innere Verschränkung von geglaubtem Offenbarungsereignis und gutem Handeln leitend.

Ausblick: Religiös konnotierte Ethik in pluralen Gesellschaften

In postsäkularen, weltanschaulich pluralen Gesellschaften, die sich zudem um das Prinzip individueller Freiheit organisieren, können nur religiös konnotierte Ethiken Gehör und Anerkennung finden, die der kommunikationstheoretisch konzipierten Logik der Interferenz folgen. Denn nur sie sind in der Lage, die sittliche Selbstbestimmung des Menschen aus theologischen Gründen hinreichend zu würdigen. Und zugleich vermögen sie ihr Modell sittlicher Orientierung als Angebot öffentlich zu artikulieren und in den pluralen Diskurs einzubringen. Es wird dabei der Bewährungsprobe ausgesetzt, ob es sich auch jenseits des religiösen Kontexts als Perspektive gelingenden Lebens erweisen lässt. Die als Schnittmenge gekennzeichnete religiös konnotierte Ethik bedarf dabei in ihren beiden Bezugspunkten, dem des Offenbarungsglaubens und dem einer Ethik als Reflexionsleistung der praktischen Vernunft, eines stetigen Austarierens, das als gegenseitiger hermeneutischer Lernprozess zu kennzeichnen ist.

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