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Leseprobe 3 DOI: 10.14623/wua.2022.4.166-171
Simone Horstmann
Wer oder was stirbt beim „Artensterben“?
Zu einer oft unterschlagenen Differenz theologischer und ökologischer Aufmerksamkeitsökonomien
Ein Disclaimer vorweg: Als jemand, die (u. a.) mit Hühnern zusammenlebt, ist meine Expertise in Sachen Artensterben überschaubar. Gut vertraut bin ich hingegen mit dem Sterben individueller Tiere. Die sechs Hennen, die in meinem Garten leben (und jene, die dort begraben liegen), sind ‚Legehybriden‘: Dieser Begriff charakterisiert sie als Extremzüchtungen, deren geschundene Körper für die ‚Eierproduktion‘ der Tierindustrie, der sie entkommen sind, maximal ausbeutbar gemacht werden. Die Möglichkeit ihres Weiterlebens über das eine, ihnen zugestandene Jahr in der Tierindustrie hinaus ist von selbiger nicht vorgesehen – dass ihr (Über-) Leben deswegen ständig auf Messers Schneide steht, erlebe ich nahezu täglich und deswegen ist mir auch ihr Sterben nur allzu vertraut. Allein in Deutschland werden jährlich Milliarden dieser Legehybriden künstlich aufgezogen, für wenige Monate tierindustriell genutzt und dann in den meist polnischen oder niederländischen Megaschlachtanlagen maschinell getötet und zu ‚Biomasse‘ etwa für Dünger verarbeitet, bevor dieser Teufelskreis in den industriellen Kükenbrütereien erneut beginnt. Wenn es also eine Tierart auf dieser Welt gibt, die bereits aufgrund ihres zahlenmäßigen Vorkommens alle Rekorde sprengt, dann sind es diese Hühner. Sie sind qua ihrer schier unvorstellbaren Zahlen an Individuen derart weit von unseren Sorgen um das Artensterben entfernt, dass einige Zeitgenossen die Hühner bereits als vermeintliche „Evolutionsgewinner“ feiern und tragischerweise aus dem Blick verlieren, dass ausgerechnet ihr individuelles Sterben in unserer Gesellschaft gleichermaßen grauenvoll wie zutiefst akzeptiert und einnormalisiert ist. Eben diese Aufmerksamkeitsökonomie beschäftigt mich in diesem Beitrag: Wie ist damit umzugehen, dass wir das Sterben von Tieren betrauern, wenn es ihre Art betrifft – kaum aber, wenn es um das individuelle, oft quälend leidvolle Sterben tierlicher Subjekte geht?

Art und/oder Individuum?

Eine mögliche Erklärung mag damit zu tun haben, dass wir lange von der scheinbar unverbrüchlichen Plausibilität einer (vermeintlich) biologischen Verhältnisbestimmung von Art und Individuum ausgegangen sind: Demnach wäre die Art die nächsthöhere Taxonomie-Ebene gegenüber dem Individuum. Aus einer philosophischen und ebenso einer theologischen Sicht wird man diese Verhältnisbestimmung gleichwohl nicht notwendig mitgehen müssen. Die aufeinander aufbauende Verhältnisbestimmung von Art und Individuum kann unter philosophischer Maßgabe womöglich sogar den Blick darauf verstellen, dass Art und Individuum gerade keine kommensurablen Taxonomie-Ebenen, sondern grundverschiedene Zugänge zur Wirklichkeit von Tieren darstellen: Es ist etwas grundlegend anderes, ein Wesen als ersetzbaren Vertreter einer Art oder als einmaliges Individuum zu betrachten. Streng genommen gilt dies auch schon für die biologische Perspektive. Denn anders als ein individueller Organismus sind Klassifikationen wie Art, Gattung oder Familie abstrakte Deutungskategorien: Sie machen den konkreten individuellen Organismus theoretisch bestimmbar und zuordbar. Über ein Individuum oder über eine Art zu sprechen, sind demnach zwei grundlegend verschiedene Perspektiven. Der ersten kommt es darauf ein, ein Lebewesen in seiner Einmaligkeit und damit so zu thematisieren, dass es als unersetzbares, irreduzibles Subjekt seines eigenen Lebens verstehbar wird. Der zweiten Perspektive liegt mit der Art eine letztlich künstliche, zumindest abstrakt und theoretisch gelagerte Kategorie zugrunde, der es gerade nicht auf die subjektiv-individuelle, sondern bestenfalls auf eine taxonomische Einmaligkeit ankommt („der indische Elefant ist einmalig und daher schützenswert“).

Wer stirbt beim „Artensterben“?

Ist es dann richtig, das Aussterben von Arten zu betrauern? Die empirische Evidenz scheint diese Intuition zu bestätigen: Das Bedauern und das Aufbegehren insbesondere gegen das mit dem menschengemachten Klimawandel einhergehende Artensterben dominieren offenkundig die öffentlichen Diskurse. Brisanz gewinnt diese Tatsache gleichwohl daraus, dass die Aufmerksamkeitsökonomie, die das Artensterben in den medialen Blickpunkt rückt, unter der Hand auch dazu beizutragen scheint, dass wir kaum Notiz vom individuellen Sterben einzelner Tiere nehmen; zumindest wird man ein merkwürdiges Ungleichgewicht zwischen beiden Arten der Trauer feststellen müssen. Diese Diskrepanz hat unlängst auch die US-amerikanische Moralphilosophin Christine M. Korsgaard in ihrer vielbeachteten Ethik „Tiere wie wir“ kritisch kommentiert. Es sei „eine rätselhafte Tatsache“, so Korsgaard, „dass viele Menschen sich um Arten offenbar sehr viel größere Sorgen machen als um die Tiere selbst. Menschen, die in aller Seelenruhe Fleisch aus industrieller Tierhaltung essen, sind außer sich, sobald ein Tier getötet wird, dessen Art gefährdet ist.“ Korsgaards Einwand richtet sich gegen die ansonsten wohl ubiquitäre Annahme eines inhärenten Werts der biologischen Art als solcher – und ist darin ebenso schlagend wie irritierend für jene, die ihre Sorgen um andere Tiere bislang einzig in ökologischen Kategorien zum Ausdruck bringen konnten, weil sie Korsgaard zufolge dabei einer folgenschweren Verwechselung aufgesessen sind: „Manche glauben offenbar, wer sich um eine Art und ihr mögliches Aussterben sorge, der sorge sich um die Tiere.“ Dass diese Überzeugung ihrer Fragwürdigkeit zum Trotz so verbreitet ist, ergibt sich für Korsgaard daraus, dass wir uns als Menschen als Gattungswesen mit einer Gattungsgeschichte begreifen. Es ist also ein genuin menschlicher – und insofern wohl auch ein tendenziell anthropozentrischer – Blick, der die Bedeutung des Individuums an die der Art koppelt, sie mitunter sogar nachrangig behandelt. Deswegen, so Korsgaard, neigen wir auch dazu, uns Arten wie Lebewesen vorzustellen und manchmal sogar von generischen Organismen zu sprechen („der Feldhamster ist bedroht“), obwohl diese generischen Aussagen unzulässig seien: „Es ist nicht Teil der bedrohten Lebensform irgendeines Organismus, vom Aussterben bedroht oder ausgestorben zu sein.“ Der generische Sprachgebrauch lade sogar regelrecht dazu ein, die einzelnen Tiersubjekte so zu betrachten, als seien sie bloß abstrakte Stellvertreter ihrer Art und nur als solche von Belang (und umgekehrt legt sie nahe, dass Arten wie Individuen zu behandeln seien und deswegen etwa auch ‚sterben‘ könnten, ohne dass zugleich klar wäre, wer oder was genau eigentlich stirbt, wenn eine Art ‚stirbt‘): Diese Denkweise, so bilanziert Korsgaard, „lässt uns vergessen, worauf es ankommt. Jedes fühlende Tier ist ein wirkliches Individuum mit einem je eigenen Zentrum seiner selbst und Erfahrungen, die ihm etwas bedeuten. […] Es spielt keine Rolle, ob es die Vertreter einer Art überall gibt und sie sich alle ähnlich sind. Ihr eigenes Leben und Ihre Erfahrungen würden Ihnen keinen Deut weniger bedeuten, wenn es zahllose andere gäbe, die im Grunde alle genauso wären wie Sie. […] Jeder einzelne Wolf, jedes einzelne Schwein besitzt diese Art Wert. Nicht so ‚der Wolf‘ und ‚das Schwein‘, als Namen der Art verstanden.“ [...]


Lesen Sie den kompletten Artikel in der Printausgabe.

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