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Leseprobe 2 DOI: 10.14623/wua.2022.4.161-165
Ingrid Grave
Um elf Uhr wird gestorben
Die katholische Kirche lehnt Sterbehilfe ab. Ich weiß es. Trotzdem habe ich einem Menschen auf mehrfaches Bitten hin mein Dabeisein nicht verweigert. Alles begann mit einem Telefonanruf, in welchem es in keiner Weise ums Sterben ging. In der Redaktion einer bekannten Schweizer Tageszeitung plante man für den Sommer eine Reihe von Gesprächen, jeweils zwischen zwei ganz unterschiedlichen Persönlichkeiten. Für mich als Ordensfrau war eine Prostituierte vorgesehen, die aber noch gefunden werden musste. Umfang des Gesprächs: Eine ganze Zeitungsseite inklusive Foto. Meine erste (unausgesprochene) Reaktion: Mache ich nicht! Ich habe es dann doch gemacht.

Die Domina und die Ordensfrau

Bevor ich auf das eigentliche Thema komme, nämlich das spätere Sterben dieser für mich vorgesehen Gesprächspartnerin, möchte ich gerne die Vorgeschichte erzählen. Denn mir scheint es hilfreich zu sein, zuvor einen kleinen Einblick in die Lebenszeit eines Menschen zu gewinnen, an dessen Ende ein selbstbestimmtes Sterben steht. Es stellte sich heraus, dass es gar nicht so einfach war, eine Prostituierte zu finden, die sich auf ein Gespräch mit mir, einer Nonne (!), öffentlich einlassen wollte. Doch eines Tages war es so weit. Ich erhielt von der Redaktion einen Gesprächstermin, packte mein Ordenskleid in die Tasche, denn ich wollte in der ersten Begegnung mit dieser Frau jede äußere Auffälligkeit vermeiden.
Da saß sie nun. Eine gepflegte äußere Erscheinung. Ich hätte hinter ihr nicht ohne weiteres die Prostituierte vermutet. War sie auch nicht, wie sie gleich zu Beginn des Gesprächs erklärte: „Ich mache SM.“ Spontane naive Frage meinerseits: „Was ist das?“ Ihre Antwort: „Sado-Maso.“ Ich hatte verstanden!
Ich saß also einer Domina gegenüber. Das Gespräch verlief recht gut, denn es stellte sich gleich zu Beginn heraus: Wir hatten zwei Gemeinsamkeiten, wir waren beide katholisch und glaubten an Gott. Der Unterschied zwischen uns bestand darin, dass meine Gesprächspartnerin aus der Kirche ausgetreten war, dass aber das Weihwasser in ihrem Leben eine größere Rolle spielte als in meinem.
Zum Foto-Termin am See zog ich mein Ordenskleid an, denn so war es vorgesehen von der Redaktion der Zeitung. Anschließend lud mich meine Gesprächspartnerin in einem kleinen Lokal zu einer Tasse Kaffee ein. Die Einladung zu einem Besuch ihres Ateliers hatte sie bereits im Sprechzimmer der Redaktion verlauten lassen. Natürlich musste dieser Besuch zu einem Zeitpunkt außerhalb der „Geschäftszeit“ stattfinden. Ich sagte zu.

Im SM-Studio und im Kaffeehaus

Es war an einem Nachmittag mitten in der Woche, als ich das Atelier aufsuchte. Ich beglückte sie mit einer großen Flasche Weihwasser, denn sie hatte Bedarf angemeldet. Dann führte sie mir eine Reihe von Gegenständen und Einrichtungen vor, die ich noch nie gesehen hatte, und erklärte mir, wie diese zu handhaben seien. Selbstverständlich immer nur auf Wunsch des Kunden. Als ich nach dem Alter ihrer Kunden fragte, gab sie mir zur Antwort: „Zwischen zwanzig und achtzig.“ Dieser erste Besuch wirkte lange in mir nach. Wer war diese Frau? Wer waren die Männer, die zu ihr in die „Behandlung“ kamen? – Ich habe in den darauffolgenden Jahren keinen einzigen Namen erfahren. Höchste Diskretion!
Als Domina hatte sie sich für ihre Tätigkeit einen Künstlernamen zugelegt: Lady Anne. Unter diesem Namen blieben wir zunächst miteinander in lockerem Kontakt. Sie wünschte es sich so. Manchmal per Telefon, und manchmal erhielt ich eine Einladung zu einem gemeinsamen Abendessen in einem Lokal, wo sie einen Tisch reservieren ließ. Wenn ich dort zum abgemachten Zeitpunkt eintraf, hatte ich den Eindruck, dass die Bedienung bereits wusste, woher ich kam, wer ich war. Man begegnete mir freundlich, aber – so schien es mir – mit einer leicht verhaltenen Neugier: Was führt diese beiden Personen zusammen?

Kerzen und Postkarten

Die Jahre vergingen, sie war es, die den Kontakt hielt. Eines Tages brachte sie mich in Verlegenheit. Sie rief mich an und klagte über einen schlechten Geschäftsgang und bat mich, dieses Anliegen in mein Gebet aufzunehmen. Ich hielt den Atem an. Aber es ging um ihre Existenz. Blitzschnell erinnerte ich mich an ihre Herkunft aus ländlich katholisch-konservativem Milieu. Ich versprach, für ihre Not eine Kerze anzuzünden. Ich hatte das Richtige getroffen. Sie war glücklich.
In der darauffolgenden Zeit begleitete ich ihr Leben, indem ich immer mal wieder für sie ein Kerzchen anzündete: An irgendeinem Wallfahrtsort, an der Lourdes- Grotte in der Nähe unseres Klosters und wo sonst es sich ergab. Dazu schickte ich ihr vom jeweiligen Ort eine Postkarte: Hier brennt ein Kerzchen für dich.
All die Jahre habe ich geahnt, dass hinter dem schönen Schein ihres Lebens ein tragisches Schicksal stehen musste. Dann kam der Tag, wo sie mir enthüllte, wie schlecht es um sie stand. Diese nicht enden wollenden Enttäuschungen während ihres ganzen Lebens! Ich erfuhr, dass die Leiden ihrer Seele bereits vor einer Reihe von Jahren zu einem ziemlich langen Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik geführt hatten. Jetzt hatte sie erneut dort über Wochen zubringen müssen. Ihre dörfliche Verwandtschaft hatte sich von ihr zurückgezogen. Der Kontakt zu ihrer in Deutschland lebenden Tochter war immer wieder abgerissen. Dabei hatte sie sich voller Sehnsucht so liebevoll bemüht! Wozu noch leben? Sie löste ihr Geschäft auf. Wie es um ihre Ersparnisse stand, habe ich nie erfahren. [...]


Lesen Sie den kompletten Artikel in der Printausgabe.

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