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Leseprobe 3 DOI: 10.14623/wua.2022.1.24-29
Heinrich Geiger
Das Wahre verbirgt sich nicht
Konzeptionen von Maß und Mitte in China
Die Idealvorstellungen von Maß und Mitte, wie sie in dem frühkonfuzianischen Traktat Die Anwendung der Mitte (zhongyong) formuliert sind, atmen den rationalen Geist des Konfuzianismus. Sie orientieren sich an einem Verständnis von Welt, dem jedes Mysterium fremd ist. Im „Gewinnen der Wahrheit“ (cheng zhi) besteht der „Weg des Menschen“ (ren dao). Doch, nachdem ihre Ordnungsvorstellungen in der Zeit der Streitenden Reiche (475–221 v. Chr.) ins Wanken geraten waren, lassen die Vorstellungen der Konfuzianer Zeichen einer „spekulativen Ohnmacht“ erkennen. In der Qin-Dynastie (221–206 v. Chr.) wurde der Konfuzianismus sogar unterdrückt. Gezwungenermaßen mussten sich seine Vertreter an den Gedanken gewöhnen, dass sich auch nach der Reichsgründung durch den Ersten Kaiser von China, Qin Shihuangdi (259–210 v. Chr.), im Jahr 221 v. Chr. die Erfüllung ihrer Hoffnung auf die Oikumene des Geistes nicht einstellen wollte. Um dennoch an ihr auf der ideellen Ebene festhalten zu können, griffen sie zu einem Trick: Sie unterschieden zwischen einer „Herrschaft durch Tugend“, idealiter verkörpert durch Konfuzius, und einer „Herrschaft durch Institutionen“, für die ihnen als abschreckendes Beispiel die Herrschaft des betont antikonfuzianischen Ersten Kaisers von China diente. Inhaltlich fügt sich Die Anwendung der Mitte in eine lange Reihe von Versuchen ein, ein durch die Tugendleistung (de) des Herrschers geordnetes und befriedetes Reich zumindest auf dem Papier zu begründen. Auf eine Serie von Begriffsdefinitionen folgen im Text eine Untersuchung über die „Herrschertugend“ (de) und eine Abhandlung über Fragen der Administration. Während diese beiden Abschnitte ohne weiteres kurz nach dem Tod des Konfuzius im 5. Jahrhundert v. Chr. geschrieben sein könnten, bildet die zweite Hälfte des Textes eine in sich geschlossene, offensichtlich nach der Reichsgründung im letzten Quartal des 3. Jahrhunderts v. Chr. verfasste Untersuchung über die Symbolfigur des Weisen. Auf dem Weisen ruhten die Hoffnungen der Konfuzianer, nachdem die Machtorganisation in die Hände eines Herrschers, der mittels „Gesetz“ (fa), aber nicht mittels „Tugend“ (de) regierte, nämlich Qin Shihuangdi, gefallen war.

Der Traktat Die Anwendung der Mitte (zhongyong) und die Geschichte des Konfuzianismus


Wie bereits deutlich geworden sein dürfte, stehen, wenn es um Maß und Mitte im Rahmen der konfuzianischen Ziviltheologie geht, spekulative Überlegungen zum Symbol der „Herrschertugend“ (de) und dem wahren Herrscher im Vordergrund. Die Lehre des Konfuzius schließt zumindest in der Form, wie sie die Geschichte des chinesischen Kaiserreichs bestimmte, eines aus: die Mitte zu sehr im modernen „westlichen“ Sinne als Innewerden zu interpretieren. In der Textstelle XX. – 5. Teil des Traktats Die Anwendung der Mitte (zhongyong) heißt es: „Fasten und sich reinigen, sich dem Anstand gemäß kleiden, handeln nach dem Ritus, so bildet sich die Persönlichkeit. Aus dem Umkreis entfernen, wer schlecht über andere spricht, sich von schönen Frauen fernhalten, alles Materielle verachten, das Charisma schätzen, so leitet man die Tüchtigen an.“ Hierbei handelt es sich nur um einen kurzen Abschnitt aus einer Phalanx von Vorschriften, die einem Ziel dienen: den „Widerstreit zwischen vorhandener administrativer und fehlender geistiger Autorität“ aufzuheben.

In seiner ältesten Überlieferung bildet das Zhongyong eine in sich geschlossene Abhandlung innerhalb des sogenannten Buchs der Riten, des Li ji, einer im ersten Jahrhundert n. Chr. aus älteren Quellen kompilierten Sammlung. Seine eigentliche Karriere begann, als es von dem song-zeitlichen (960–1279 n. Chr.) Gelehrten Zhu Xi (1130–1200 n. Chr.) mit weiteren Texten – der Großen Lehre (daxue), den Analekten (lunyu) des Konfuzius und dem Buch Menzius (mengzi) – zu der Gruppe der sogenannten „Vier Schriften“ (si shu) des Konfuzianismus zusammengefasst wurde. Zusammen mit den „Fünf Klassikern“ (wu jing) dienten diese als ein verbindlicher Kanon konfuzianischer Literatur, der bis zum Jahre 1905 als Grundlage der öffentlichen Prüfungen diente. Ihnen musste sich jeder Anwärter für eine Beamtenstelle unterziehen. Die Anwendung der Mitte und ein weiterer Traktat aus der Frühzeit des Konfuzianismus, Die Große Lehre (daxue), erhellen sich wechselseitig.

Durch die kompilatorische Tätigkeit Zhu Xis wurde im 12. Jahrhundert n. Chr. das konfuzianische Erbe neu geordnet. Der Neokonfuzianer war in seiner geistigen Grundhaltung so rigoros, dass er rundweg alle Geschichtsperioden, in denen nicht eine bestimmte – die konfuzianische – Geisteshaltung das Handeln der Regierung leitete, als dem „Weg“ (dao) zuwider betrachtete. Aufgrund seiner besonderen Stellung in der chinesischen Geistesgeschichte ist Zhu Xi mehr als jeder andere für die geistige Unbeweglichkeit verantwortlich zu machen, die das chinesische Kaiserreich in den letzten Jahrhunderten seines Bestands zunehmend lähmte. Durch die Auslegungspraxis des song-zeitlichen Neokonfuzianismus wurde aus der in dem Traktat Die Anwendung der Mitte (zhongyong) formulierten Haltung der Mitte ein unerbittlicher Richtwert. Von da an hatte sie jedem Menschen als Orientierung für sein Handeln zu dienen, „weil sie sich um nichts verschob, weil sie den unverrückbaren Maßstab für alle nur erdenkbaren Gegensätze verkörperte.“

Ist es vor diesem Hintergrund nicht geradezu eine Wohltat, keine Mitte oder, wenn ja, zumindest eine leere Mitte zu haben? - so mag sich an dieser Stelle manche Leserin / mancher Leser fragen?

Die leere Mitte

Der im Exil lebende chinesische Dichter Yang Lian (geb. 1955) führt in einem Text aus dem Jahr 1998, der „China?“ überschrieben ist, das Bild der Elfenbeinkugel an. Diese dient ihm als Sinnbild für die Komplexität eines im Alltag selten hinterfragten Begriffs, nämlich „China“. Yang Lian schreibt: „Wer weiß, was ‚China‘ ist? Wer weiß, ob es ein ‚China‘ gibt? Auf der Welt war und ist ‚China‘ immer nur ein Wort. Ein ‚Nichtsein‘, das sich in der Vorstellung der Menschen eingenistet hat. Ein allzu tiefes Schweigen in der Geschichte, eine allzu große Leere. […] Doch wer hat es dann erdacht? Wie wurde ‚China‘ Schicht für Schicht sorgfältig zu einer zierlichen, innen hohlen Elfenbeinkugel ziseliert?“ [...]


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