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Leseprobe 2
Peter Spichtig
Gregorianik und „rechtes“ Kirchenverständnis
Kampfplatz Liturgie
Der Gottesdienst ist das Aushängeschild der Kirche. Von den kirchlichen Selbstvollzügen ist die Liturgie phänomenologisch der Manifesteste. Kein Wunder also, wenn sich Spannungen über das rechte Kirchenverständnis, über die rechte Identität als Glaubensgemeinschaft in ihrer konkreten Gottesdienstgestaltung artikulieren. Von da her gesehen sind vermeintlich ästhetische Streitereien um die rechte Gestalt des Gottesdienstes eben nicht (bloß) Geschmacksfragen, sondern auch Indikatoren von gleichzeitig vorhandenen und gelebten Kirchenidentitäten.

Vielfältig motivierte Lust auf Choral

Indes ist es ein heikles Unterfangen, von Spitzenrochettes oder vom Kirchenmusikrepertoire kausal auf kirchenpolitische Lager zu schließen. Solche Stereotypisierungen werden der Vielschichtigkeit der religiösen Identität des Einzelnen nicht gerecht. Die 2007 erfolgte weitgehende Wiederzulassung der 1962 in Gebrauch gewesenen liturgischen Bücher als „außerordentliche Form des römischen Ritus“ hat daran wenig geändert; das kirchenidentitäre Spektrum ist dadurch im Gegenteil zwar um eine Artikulationsplattform differenzierter, aber auch diffuser geworden. 1 Ästhetische, nostalgische, glaubensidentitäre oder sozialpsychologische Motive gehen da schon mal durcheinander und miteinander und sind oft genug gar nicht bewusst. Beispiele, die einen desintegrierten Umgang mit der Gregorianik aufzeigen gäbe es viele. Freilich gibt es daneben die Kreise, für die die „Alte Messe“ und damit verbunden die Gregorianik ein wesentlicher Teil ihrer Glaubensidentität und Weltanschauung ausmacht. Es sind Traditionalisten, die das letzte Konzil grundsätzlich nicht oder nur sehr selektiv annehmen. Aber auch diese Gruppen sind sehr schwer zu fassen. Sie sind quantitativ und hinsichtlich der in ihnen anzutreffenden Motivationen in Hamburg anders gelagert als in Tirol, nochmals ganz anders in Frankreich, wo sie oft der politischen Rechten zuzurechnen sind. In traditionell katholischen Mittelmeerländern wie Kroatien wiederum sind die Anhänger der „Alten Messe“ fast nur unter neokonservativen Jungpriestern auszumachen.

Wem gehört die Gregorianik?

Dass dort, wo „Alte Messen“, aber auch die Messe nach den Büchern Pauls VI. teilweise oder ganz auf Latein gefeiert werden, gregorianischer Choral anzutreffen ist, dürfte nicht überraschen. Die „Magna Charta“ der Kirchenmusik, das sogenannte Motu proprio „Tra le sollecitudini“ Pius’ X. von 1903 identifiziert den gregorianischen Choral als die Musik, die wesenhaft zur katholischen Kirche gehört und als wahrhaftig heilige und wahre Kunst. Begründet wird dies mit dem Alter und der ungebrochenen Überlieferung.2 Das passt soweit zur ekklesiologischen Denkweise traditionalistischer Kreise. Ihnen allein gehört der Choral deshalb lange nicht! Denn diese „ultramontane Ikone“ stimmt so nicht. Der gregorianische Choral war de facto seit mehreren Jahrhunderten weitestgehend durch zeitgenössische Kirchenmusik der jeweiligen Epochen verdrängt. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfuhr der Choral vor allem durch Solesmes eine nachhaltigere Wiederbelebung, die durch das Motu proprio von 1903 universalisiert wurde. Tatsächlich geriet der Choral nun bis in kleinste Pfarreien hinein, oft vom Harmonium begleitet, zum „Gemeindegesang“. Denn erstaunlicherweise findet sich in genau diesem Dokument erstmals auch das Prinzip der aktiven Teilnahme aller an der Liturgie formuliert! Einerseits wird mit dem Ausdruck partecipazione attiva zögerlich, aber deutlich in einem allgemeinen Sinn darauf hingewiesen, dass die Gläubigen den christlichen Geist ja aus seiner ersten und unersetzlichen Quelle schöpfen, indem sie „an den hochheiligen Mysterien und am öffentlichen feierlichen Gebet der Kirche“ aktiv teilnehmen.3 Zudem wird diese aktive Beteiligung explizit in Bezug auf den gregorianischen Choral gefordert. Dieser sei beim Volk wieder einzuführen, „damit die Gläubigen am kirchlichen Gottesdienst wieder tätigeren Anteil nehmen, so wie es früher der Fall war.“4

Ein Miteinander-Feiern, wie wir es gewohnt sind, war das freilich noch nicht; noch immer verliefen „Klerikerliturgie“ und Betätigung der anwesenden Laien strikt parallel. Die komplexe Geschichte der tatsächlich gepflegten Kirchenmusik – wie auch der Liturgie insgesamt – mahnt zur Vorsicht vor romantischen Idealisierungen. Und die phänomenologische Umschau, wo derzeit wer, wie und aus welcher Motivation heraus das gregorianische Repertoire pflegt, lässt auch keine klaren Schlüsse zu. Ekklesiologisch ergiebiger als die Frage, wie sich die katholische Identität und Rechtgläubigkeit zum gregorianischen Repertoire verhält, ist es, den lebendigen Traditionsstrom des gregorianischen Chorals unter prinzipiellen Gesichtspunkten zu betrachten.5

Gregorianik als Prinzip für „katholische“ Kirchlichkeit

Auch das Konzil hält große Stücke auf den gregorianischen Choral. Die Kirche betrachtet ihn „als den der römischen Liturgie eigenen Gesang“, der „in ihren liturgischen Handlungen, wenn im übrigen die gleichen Voraussetzungen gegeben sind, den ersten Platz einnehmen“ soll (SC 116). Etwas weiter, im Kapitel über die sakrale Kunst im allgemeinen, ergibt sich eine interessante Spannung hierzu: „Die Kirche hat niemals einen Stil als ihren eigenen betrachtet, sondern hat je nach Eigenart und Lebensbedingungen der Völker und nach den Erfordernissen der verschiedenen Riten die Sonderart eines jeden Zeitalters zugelassen und so im Laufe der Jahrhunderte einen Schatz zusammengetragen, der mit aller Sorge zu hüten ist.“ (SC 123). Die Pole Tradition und Inkulturation sind somit in fruchtbarer Spannung zu halten!
Betrachten wir die Gregorianik nämlich nur unter dem Aspekt des zu konservierenden Repertoires und postulieren deren „Heiligkeit“ und „wesensmäßig“ katholische Identität, so riskieren wir, sie „in sich“ zu bewundern und zu verteidigen. Die Liturgische Bewegung hingegen hat unseren Blick neu auf die Frage der Funktion der verschiedenen Elemente und Akteuren im „heiligen Spiel“ zu lenken gewusst. Mit dem erwähnten Prinzip der aktiven Beteiligung der Gläubigen, ein Leitmotiv der Liturgiekonstitution insgesamt, zieht ein erneuertes Gottesdienstund Kirchenverständnis herauf. Gerade die Gregorianik birgt dieses neue alte Kirchenverständnis in sich, hat sie doch all die liturgiegeschichtlich gesehen verunklärenden Zeiten seit dem Spätmittelalter unbeschadet überlebt und vermag heute unser eigenes, stereotypisiertes Kirchenverständnis da und dort anzufragen.

Das Prinzip der liturgischen Funktionalität

Die gregorianischen Gesänge sind aus der Liturgie heraus entstanden. Sämtliche Stücke haben ihren spezifischen Ort innerhalb der Dramaturgie der Liturgie und des Kirchenjahres. Dieser „Ort“ ist eine Funktion: eine liturgischen Handlung zu begleiten (zum Brotbrechen) oder als Gesang selber performative Aktion zu sein (Antwortpsalm). Der im Missale intendierte liturgische Gesang brauchte schon immer durchwegs zwei verschiedene ausführende Größen, die Schola (Chor, Gemeinde) und den Kantor, und dies nicht etwa allein deshalb, weil die Stücke für alle etwa zu kompliziert wären. Dadurch ist nämlich die dialogische Grundstruktur des liturgischen Gesangs als ekklesiologisches Prinzip rituell inszeniert. Somit vermag gerade der sachgemäß gestaltete liturgische Gesang erfahrbar zu machen, worum es im Ganzen geht: Es gibt im Gottesdienst keinen einzelnen, einsamen Handelnden, sondern je Dialog: zwischen Gott und Menschen und den Menschen untereinander. Ein komplementär partizipatives Kirchenverständnis ist also bereits der Gregorianik inhärent: Soll der Gesang nicht bloß nette Dekoration, sondern integraler und konstitutiver Bestandteil der Feier sein, muss jeder Handelnde authentischer Träger der Feier sein.
Das ist nicht nur eine kritische Anfrage an alle priesterzentrierten Kirchenbilder. Es ist auch eine kritische Anfrage an die meisten Pfarreien, die mit einem Organisten auszukommen meinen und jeden Sonntag ihre Strophenlieder absingen. Das einzige Stück, was in der Messe „liedartig“ von allen am Stück gesungen wird, ist das Sanctus. Alle anderen Stücke implizieren dialogischen Vollzug. Hier überführt uns die Gregorianik einer weit verbreiteten ekklesiologischen Verkrüppelung: die Vielfalt der Charismen und Rollen in einer Gemeinde (1 Kor 12,12–26) muss sich auch in der differenzierten Rollenaufteilung im liturgischen Gesang vollziehen.

Das Prinzip der Textgebundenheit

Gregorianischer Choral ist Textgesang. Textgrundlage ist praktisch ausschließlich die Bibel, insbesondere der Psalter. Für den liturgischen Gesang wie für den Gottesdienst ganz grundsätzlich gilt: seine „Muttersprache“ ist die Bibel. Neben den Verkündigungstexten findet man in allen anderen Textsorten Paraphrasen von Schriftstellen oder zumindest biblische Motive. Die kritische Rückfrage an die Anhänger der „Alten Messe“ liegt auf der Hand: wie können sie rechtfertigen, zu einer Messform Zuflucht zu nehmen, die einen so mageren und unausgewogenen Schriftlesungszyklus hat, wo doch die Konzilstexte (SC 51; Dei Verbum) und in der Folge die Liturgiereform die Wichtigkeit der biblischen Verkündigung derart herausstellen? Sofort schließt sich eine andere kritische Frage an: Ist nicht die lateinische Sprache, insofern sie seit Jahrhunderten breitesten Kreisen unverständlich ward, definitiv zum Gegenzeugnis geworden? Das Prinzip der aktiven Teilnahme aller, das die Liturgiekonstitution durchzieht, führt, ernst genommen, unweigerlich zur Bemühung um konkrete sprachliche Verständlichkeit des Gottesdienstes.

Das Prinzip der „Katholizität“

Die musikalische Gottesdienstgestaltung birgt die besten Chancen, die Menschen hier und jetzt anzusprechen. Darin liegt aber auch das Risiko einer schleichenden „Nationalisierung“ der Liturgie. Denn zwischen den Kirchenliedrepertoires verschiedener Sprachen besteht praktisch keine Schnittmenge. Das erschwert das Mitfeiern eines Gottesdienstes im Spanienurlaub nicht nur der Sprache, sondern auch des fehlenden musikalischen Identifikationsrahmens wegen. Einfache Rezepte gibt es hier freilich nicht. Denn auch der Versuch, aufbauend auf der Missa mundi eine Art „meta-kulturellen Kirchensound“ zu kreieren, in den sich alle einklinken können, hat sich anlässlich des Kölner Weltjugendtages letztlich als Flopp erwiesen: Das lateinische Repertoire ist längst weg, nicht mal die Bischöfe sangen mehr mit!6 Man muss praktisch neu aufbauen – was auch sein Gutes hat. Taizé hat gezeigt, wie man aufgrund einer sich einstellenden Interkulturalität der Gottesdienste zu Lösungen kommen kann.

Das Prinzip der Alterität

Durch die enge Text- und Kontextgebundenheit ist der gregorianische Choral der liturgische Gesang schlechthin. Diese Qualität ist nicht zu unterschätzen, geht es doch im Gottesdienst auch um die Erfahrung von Alterität. Die Begegnung zwischen Gott und Menschen und Menschen untereinander im Modus der Feier gelingt umso besser, je mehr ein Überstieg in diesen anderen Raum bewusst vollzogen werden kann. Gerade junge Menschen sind durchaus sensibel für diese Andersheit: Wenn Kirche drauf steht, soll auch Kirche drin sein, und nicht ein schlechter, da inkompetenter Abklatsch der Popkultur! Die Gregorianik ist auch hierin Prinzip und Qualitätsmaßstab für eine stets neu zu suchende musikalische Ausdrucksform innerhalb der Liturgie.7 Bezeichnenderweise übersteigt sogar diese höchste Form der Klang-Rede durch ihre Melismen das Wort selbst allenthalben in eine Art Entzücken jenseits der Sprache.

Singt dem Herrn ein neues Lied!

Der gregorianische Choral bleibt der Kirche erhalten – den Traditionalisten eh, aber aus oben entfalteten Gründen hoffentlich auch jeder Pfarrgemeinde. Die Chancen hierfür stehen nicht schlecht. Denn die semiologische Methode hat sich in den letzten fünfzig Jahren praktisch überall durchgesetzt und lässt an immer mehr Orten eine gute Choralkultur wachsen.8 In der allgemeinen Wahrnehmung bereichert die Gregorianik das deutschsprachige Repertoire und inspiriert hoffentlich nachhaltig zu neuen Liedern, die von Gottes heilender Gegenwart und Unerreichbarkeit Zeugnis geben. Allfällige Rückzugstendenzen in eine idealisierte katholische Meta-Identität sind pathologische Sackgassen. Mit Tradition hat das nichts zu tun.

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