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Leseprobe 2 DOI: 10.14623/wua.2018.3.113-120
Jadranka Brnčić
Die Parrhesia im Neuen Testament

Die wortgetreue Übersetzung für Parrhesia (παρρησία /parrhēsia/: παν = alles + ρησις /ρημα = sagen) lautet „über alles sprechen“. Im Deutschen entspricht es der Freimütigkeit und im Englischen dem free speech, geläufig sind ferner die Übersetzungen „offenes Sprechen“ (eng. open speech, ital. discorso aperto) und ehrliches Sprechen (fr. franc-parler). Parrhēsiazomai heißt die Parrhesia anwenden, während parrhēsiastes (Parrhesiast) eine Parrhesia-sprechende Person bezeichnet, also eine Person, die wahrhaftig spricht.


In der Rhetorik der Antike diente die Parrhesia als sprachliches Mittel, das eine sprechende Person verwendet, um offen unangenehme Wahrheiten über Einzelne oder die Gesellschaft auszusprechen. In der griechischen Literatur erschien der Begriff zunächst bei Euripides (um 484–407 v. Chr.) und später auch in Texten anderer antiker Schriftsteller (Platon, Plutarch, Galenos, Lukian, Gorgias, Philodemos). Der Begriff taucht im 1. Jh. in den Evangelien auf und dann erneut in den patristischen Texten des 3. und 4. Jh. (Johannes Chrysostomus, Gregor von Nyssa, Origenes, Methodios von Olympos, Athanasius und schließlich auch bei Augustinus).

Die Parrhesia nach Foucault

Es war Michel Foucault, der sich als erster ernsthaft mit dieser rhetorischen Figur auseinandersetzte. Seine Vorlesungen zum Thema Parrhesia gab er in den Jahren 1983 und 1984, und zwar von Januar bis März 1983 sowie von Februar bis März 1984 am Collège de France und von Oktober bis November 1983 an der University of California in Berkeley. In seiner Diskursanalyse zog er den Begriff „Sprechaktivität“ (speech activity) gegenüber dem von John Searle verwendeten „Sprechakt“ (speech act) vor. Dadurch sollte sowohl die Sprechtätigkeit als vielschichtiger Prozess als auch in Bezug auf die Parrhesia als parrhesiastische Ausdrucksform die unabdingbare, unmittelbare Verbindung zwischen dem Sprechenden und dem Gesagten hervorgehoben werden.

Das Hauptmerkmal der Parrhesia in der antiken Kultur war mithin die prävalierende Koinzidenz von persönlicher Überzeugung und der Wahrheit des Gesagten. Der Sprechende gewährleistet seine Wahrhaftigkeit durch seine eigene Person. Diese bezieht sich zunächst nicht auf den Inhalt des Gesagten, sondern auf die Qualität der Beziehung zwischen dem Sprechenden und dem Gesagten. Der Parrhesiast spricht die Wahrheit aus und erzeugt sie in gewisser Hinsicht durch diesen Sprechakt. Die Parrhesia ist mithin das aufrichtige, offene, riskante Sprechen des Parrhesiasten über das, was er als das Seiende sieht, das jedoch nicht im Einklang mit dem steht, wie das Seiende dargestellt werden möchte.

Die parrhesiastische Wahrheit ist das Erkennen der Wirklichkeit so, wie sie ist, und sie ist das Sprechen darüber, wenngleich es den an dieser Wirklichkeit Beteiligten nicht behagen mag. Dabei hat der die Wahrheit ehrlich und offen aussprechende Parrhesiast ein besonderes Verhältnis zur Wahrheit und zu seinem eigenen Leben, das aufgrund des Aussprechens der Wahrheit vermehrt der Gefahr ausgesetzt ist. Der Parrhesiast hat über die Kritik oder Selbstkritik ein besonderes Verhältnis zu sich selbst oder den anderen Menschen und ein besonderes Verhältnis zum moralischen Gesetz, das sich in Freiheit und in Auftrag verwirklicht.

Die Beschäftigung mit der Wahrheit durch das Aussprechen der Wahrheit erfasst die gesamte menschliche Existenz. Es ist eine Praxis, die den Wahrheit-Aussprechenden vollständig durchdringt. Foucault bezeichnet sie als „Selbstpraktik“ bzw. „Lebensstil“. Der parrhesiastische Lebensstil ist insbesondere in der kynischen Philosophie des Antisthenes in Athen offensichtlich. Dieser widmet Foucault den größten und wichtigsten Teil seiner letzten Vorlesungen. Die kynische Art zu leben ist unter den Begriff des „wahrhaftigen Lebens“ in der griechischen Philosophie einzuordnen. Die Anhänger der kynischen Schule erhoben die Bedürfnislosigkeit zum Ideal: je weiser der Mensch ist, desto weniger Bedürfnisse hat er und je weniger Bedürfnisse er hat, umso freier ist er. Sie lehrten die einfache und asketische Lebensweise im Einklang mit der Natur (Diogenes lehnte das Glas ab, als er sah, dass er aus der Hand trinken konnte), während sich ihre Haupttätigkeit auf die Parrhesia richtete – das fortwährende und offene Aussprechen der Wahrheit. [...]


Lesen Sie den kompletten Artikel in der Printausgabe.

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